3.2.2 Introvertierte Tendenz ästhetischer Erfahrung
und animatives Potential von Design
Die introvertierte Tendenz zieht das bewußte Empfinden zu einer inneren Tiefe,
der Seele. In der Versunkenheit, dem innerlichen Kreisen um ein Thema, das die
introvertierte Tendenz in Gang hält, macht das Bewußtsein um äußere
Rahmenbedingungen wie Situation, Raum und Zeit dem innerlichen Erleben von Erinnerungen,
momentanen Empfindungen, Vorstellungen und Phantasien Platz. Ob angenehme,
aufwühlende, schwierige Erlebnisse, sie alle können die introvertierte Tendenz aktivieren. Eine
passende ästhetische Erfahrung für diese nach innen gerichtete Bewegtheit läßt sich
mit der Formulierung: » und Maria hörte diese Worte und bewegte sie in ihrem
Herzen«, aus der Weihnachtsgeschichte annäherungsweise ebenso veranschaulichen wie
mit Auguste Rodins (18401917) Skulptur »Der Denker« von 1880 oder dem 1514
entstandenen Kupferstich »Melancholie« von
Albrecht Dürer (14711528). Die entrückte
Aktivität der introvertierten Tendenz im Wachzustand läßt sich mit dem Träumen
im Schlaf vergleichen. Ähnlich wie im Traum, dessen Funktion je nach Theorie
darin gesehen wird, das tagsüber Erlebte nach Müll oder Verwertbarem zu sortieren oder
als Quelle für Erkenntnis Lösungsansätze für Probleme zu generieren, konzentriert die
introvertierte Tendenz alle Kräfte auf das innerliche Erleben von Motivation,
Kognition und Emotion. Wie Versuche beweisen, macht Schlafentzug psychisch krank,
weil keine Möglichkeit zum Träumen besteht. Vergleichsmessungen zur Gehirnaktivität
und Beobachtungen der Augenbewegungen von Schläfern, die glaubten nicht zu träumen
und solchen, die sich an ihre Träume erinnern konnten, belegen, daß es bei
beiden Gruppen Traumphasen gibt. Entsprechend ist zu vermuten, daß Menschen je nach
ihrer charakterlichen Eigenart und den Lebensumständen mehr oder weniger häufig
auch tagsüber Phasen durchleben, in denen die introvertierte Tendenz gegenüber
anderen Tendenzen Vorrang gewinnt. Differenzierter als die generelle Anklage der
Reizüberflutung verdeutlicht die Annahme einer subliminal eigeleiteten introvertierten
Tendenz die Notwendigkeit, sich je nach Verfassung öfters aus dem allgemeinen
Treiben zurückzuziehen, die aufgefangenen Reize zu sortieren, eine Pause einzulegen, sich
zu besinnen und sich selbst und den Sinn des eigenen Tuns wiederzufinden.
Bei einer Umfrage zur treffendsten Bezeichnung der Gesellschaft gaben sechzig
Prozent der Befragten den Begriff Leistungsgesellschaft an. Unklar bleibt, ob die
Befragten damit Positives oder Negatives konnotierten. Der introvertierten Tendenz in
ausreichendem Umfang nachzugehen erbringt zumindest vordergründig gesehen keine
direkt verwertbaren Leistungen, weshalb dafür zu selten Gelegenheit geboten wird.
Die seelische oder mentale Befindlichkeit ist eine grundlegende Einflußgröße
für die Qualität der ästhetischen Erfahrung. Sie mag zwar hinsichtlich der Konzeption
von auf soziokulturelle Wirkung angelegten Projekten eher vernachlässigbar sein,
keinesfalls jedoch bei der Konzeption von Projekten, die das alltägliche Leben betreffen
und durch wiederholte Interaktion im Nahfeld des einzelnen aufgenommen werden. Zu
den alltäglichen Dingen, die das leben begleiten, dem Sessel, der Kaffetasse usw. wird
mit der Zeit eine mentale Nähe aufgebaut. Es scheint so, als wären die Dinge vom Geist
des Nutzers beseelt. Umgekehrt trägt jeder diejenigen Dinge zusammen, von deren
ästhetischer Erscheinungsweise er sich angesprochen fühlt. Empfindungen werden auf
Dinge projeziert, die dadurch ihrerseits beseelt erscheinen. Nahverhältnisse, in denen
die Dinge als Impulse für eine ästhetische Berührung der eigenen Seele
angenommen werden, entstehen. Sie bilden die Grundlage für Vertrautheit und verantwortliche
Behutsamkeit im Umgang mit dem Lebenskontext. Daher ist das Entstehen
mentaler Nähe im Mensch-Objekt-Bezug durch das animative Potential von Design zu fördern.
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