3.2.3 Explorative Tendenz ästhetischer Erfahrung
und impulsives Potential von Design
Die explorative Tendenz drängt nach Aktivitäten in der unbekannten
Außenwelt. Diese Welt verheißt, ob in Form von Wissensangeboten wie Bibliotheken und dem
Internet oder in Form von Erlebnisangeboten wie Reisen, Sportereignissen, Museen,
unvorhersehbare Überraschungen. Das einzelne Ereignis bremst den Aktivitätsdrang
der explorativen Tendenz nur kurz ab, denn schon wird nach dem nächsten Ereignis
Ausschau gehalten. Ruheloser Erlebnishunger, Wissensdurst oder Abenteuerlust
wirken nach dem Motto der Textzeile »das nächste Tal kann noch grüner sein und da
hinten glänzt Gold im Sonnenschein«, aus einem Song von
Udo Lindenberg, als unaufhörlicher Antrieb. Die explorative Tendenz treibt auch die bewußte Erkenntnissuche
an, die Goodman in seiner Interpretation der ästhetischen Erfahrung als deren
wesentlichen Wert hervorhebt, indem er bezüglich der ästhetischen Tätigkeit betont:
», daß der Anreiz in der Neugier und das Ziel in der Aufklärung liegen. Über das
unmittelbare Bedürfnis hinaus werden Symbole um des Verstehens, nicht um der Praxis
willen gebraucht; was uns treibt, ist der Wunsch nach Wissen, was uns Freude bereitet, ist
die Entdeckung, und die Kommunikation ist gegenüber dem Erfassen und Formulieren
dessen, was kommuniziert werden soll, sekundär. Der primäre Zweck ist Erkenntnis an und für
sich; Brauchbarkeit, Wohlgefallen, Zwang und kommunikative Nützlichkeit, alle hängen von
ihr ab.« (Goodman, 1997, S. 237)
Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung wird die expolorative
Tendenz nicht als wichtigste Quelle der ästhetischen Erfahrung definiert. Gleichwohl
begleitet sie jedes engagierte wissenschaftliche Forschen, auch das in diesem
Untersuchungsprojekt betriebene. Sie findet in der Erkenntnisfreude und der imaginativen
Qualität als ästhetische Erfahrung ihre bewußte Ausprägung.
In der Vergangenheit hat die explorative Tendenz bereits verschiedene
Ausformungen angenommen und soziale Wertungen erfahren, die in der Literaturgeschichte
zum Ausdruck kommen. Im Unterschied zu den zuvor umrissenen Tendenzen
entwickelt das Verhalten unter dem Einfluß der explorativen Tendenz in größerem Maß
verändernde Tatkraft. Diese betrifft nicht nur die Erfahrung eines indiviuellen Akteurs.
Sie beeinflußt auch andere Erfahrungskomponenten mit. Daher ist es sinnvoll, die
Anregung zum Ausleben der explorativen Tendenz mit einem erzieherischen Anspruch
zu verbinden. Beispielhaft stellt Hans Jakob C. von Grimmelshausens (16251676)
Entwicklungsroman »Der abenteuerliche Simplizissimus« von 1669 dar, wie ein
Abenteurer auf seiner Entdeckungsreise durch die Welt Erfahrungen sammelt, die ihn zur
inneren Reife führen. Wolfram von Eschenbach (ca. 11701220) schildert in dem
Epos »Parzival« von 1210 nach der Vorlage von
Chrétien de Troyes (ca. 11911144)
einen abenteuerlustigen Helden, der letztlich seine Energie durch die Suche nach dem
Gral auf ein für alle lohnenswertes Ziel hin kanalisiert. Auch der Abenteurer Don
Quijote aus dem gleichnamigen Roman von 1605 läßt nach dem Willen seines Schöpfers
Miquel de Cervantes Saavedra (15471616) seiner explorativen Tendenz keinen freien
Lauf, sondern schaltet seine Wertvorstellungen als Filter vor und interpretiert die
Ereignisse trotz Irritationen im Sinne seiner Erwartungen und weltverbesserischer Anliegen.
Dagegen stellt Homer um 800 v. Chr. in der bunten Schilderung der Abenteuer des
Odysseus, der sich seiner explorativen Tendenz hingibt, keine belehrende Botschaft in
den Mittelpunkt. Der Kinderbuchautor Janosch thematisiert einen wesentlichen
Lerneffekt von explorativen Phasen in seiner Erzählung »Oh, wie schön ist Panama«
von 1986, in der die Abenteurer nach einer Wanderung im Kreis wieder vor ihrem Haus
landen, das sie nun mit neuen Augen sehen und mit stärkerer Zuneigung genießen.
All diese Beispiele verbindet die Gemeinsamkeit, daß die Entdeckungsreise
der Hauptfiguren in irgendeiner Form zu einem Ende kommt. Dagegen repräsentieren
die Science-Fiction-Serien, die mit »Raumschiff Enterprise« begannen, eine
zeitgemäßere Umsetzung von modernen Vorstellungen zur explorativen Tendenz. Deren Aspekte
und Lerneffekte werden als punktuelle Impulse auf einem unvorhersehbaren
menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsweg dargestellt, dessen Ende im Prinzip offen bleibt.
Bezüglich dieser aufklärerischen Weltvorstellung liegt die prinzipielle
Bedeutung und Aktualität von Design in der Auffassung, daß die Entdeckung der punktuellen
Impulse weder im Laufe des individuellen, noch des sozialen Auslebens der
explorativen Tendenz allein dem Zufall überlassen werden darf, sondern durch strategisch
geplante Angebote wenigstens ergänzt werden muß (vgl. Kapitel 6). Diese Überzeugung von
der Möglichkeit einer bewußten Einflußnahme auf Veränderungstendenzen steht als
Leitmotiv letztlich hinter jeder Kategorie von Design, auch wenn im Kontext dieser
Analysen nicht von einer einzigen, richtigen, fraglos zu unterstützenden Tendenz die
Rede sein kann. In diesem Sinne geben auch sensitives und animatives sowie die später
zu analysierenden speziellen Ausrichtungen von Design mehr als nur zufällige Impulse.
Hinsichtlich der explorativen Tendenz sind zwei Bezüge zu Design
hervorzuheben, die stärker als bei den anderen subliminalen Tendenzen dessen Einflußmöglichkeit auf
die Erfahrungskonstruktion betonen. Erstens ist dies die Aufgabe, die
drängende Neugier und auf alles einstürmende Kraft der explorativen Tendenz zu zähmen und
in konstruktive Bahnen zu lenken. Zweitens geht es darum, gezielte Anstöße zur
Förderung eines positiven Entwicklungsflusses anzubieten. Auf diese Aufgaben hin ist
das impulsive Potential von Design zu konzipieren.
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