1.4 Differenzierte Richtlinien für Design
in Korrespondenz zur Vielfalt ästhetischer Erfahrung
Nach Herleitung der Grundeinteilung, die auf dem Modell einer Korrespondenz
von Design und ästhetischer Erfahrung in Relation zu den stabilisierenden
Orientierungen von Erfahrung basiert, ist im folgenden die weitere Vorgehensweise darzulegen
(vgl. Abbildung 3), um differenzierte Richtlinien für Design in Korrespondenz zur
Vielfalt ästhetischer Erfahrung zu entwickeln. Diese sind nicht als feststehende
Sezieranleitung ein für allemal instrumentalisierbar, sondern eher graduell einstellbaren
Filtern vergleichbar, die von Fall zu Fall auszuwählen und einzujustieren sind. Da Design
nicht als Machtinstrument zur neutralisierenden Angleichung der vielfältigen
Lebensperspektiven genutzt werden soll, müssen Designer ästhetische Ausdrucksformen
finden, die sich zunehmend aus den Lebenswirklichkeiten und den dadurch definierten
ästhetischen Erfahrungsqualitäten von Individuen herleiten und nicht aus einem
standardisierten, puristischen, disziplinär tradierten Formenrepertoire, dessen
Beherrschung vielen Designern als Legitimation dient.
Ästhetische Erfahrung als Teilprozeß der wirklichkeitsbildenen Basis von
Erfahrung verfolgt keine Erkenntniszwecke und dient keinem Nutzen, aber sie stellt in
Beziehung auf das eigene Selbst, auf die Mitmenschen und die Welt (vgl. Kapitel 2)
Erlebnismomente bereit, welche unbezweifelbar die Lebensfreude vertiefen. Zudem lassen sie
qualitative Aspekte des Lebens vor jeder moralischen oder ethischen Argumentation
spürbar werden, da mit der Flüchtigkeit einer ästhetischen Erfahrung die
Vergänglichkeit des Lebens bewußt wird. In der ästhetischen Erfahrung werden weder das Selbst
noch die Mitmenschen oder die Welt instrumentalisiert. Deshalb verstellen weder
Egoismus noch Unterdrückungsgelüste, Machtdemonstrationen oder Willkür das
Bewußtsein. Vielmehr wächst, indem das Leben genügend Zeit für ästhetische Erfahrungen
bietet, aus dem eingelösten Vertrauen auf die Möglichkeit von Lebensqualität Verständnis
für die Lebensfreude anderer Menschen, die Achtung vor dem Leben an sich und
Hoffnung auf die Fortsetzung von Leben über das Ende des eigenen Existenz hinaus.
Der Begriff der Lebensqualität oder des guten Lebens wird in den folgenden
Analysen zwar selten benannt, durchzieht aber letztlich alle Überlegungen. Die
vergängliche Sequenz einer ästhetischen Erfahrung mit der zugehörigen besonderen
Qualität des Erlebens geht als wertvoller Moment in das individuelle Leben ein. Er kann
zu einem späteren Zeitpunkt, in dem die aktuelle Lebenssituation wenig
Möglichkeiten zur Entfaltung von ästhetischer Erfahrung anbietet, aus der Erinnerung
lebendig werden und ein positives Lebensgefühl wach halten. Durch wiederholtes Erleben
verschiedenster ästhetischer Erfahrungsqualitäten kann sich, ungeachtet negativer
Ereignisse, eine dauerhafte, positive Einschätzung von Lebensqualität erhalten.
So wichtig die subjektive Konkretisierung von Lebensqualität ist, darf doch
nicht übersehen werden, daß ihr Potential in Abhängigkeit zum sozialen Gefüge steht.
Gerade in der heutigen, westlichen Welt, in der das leibliche Wohl der meisten
Menschen gesichert ist und in der durch die zunehmende Automatisierung immer mehr
Freizeit entsteht, sind viele Menschen unfähig, ästhetische Erfahrungen im definierten
Sinne zu entfalten, denn nur wer etwas Nützliches leistet findet soziale Anerkennung.
Die Verinnerlichung dieses Diktums der Leistungsgesellschaft erzeugt
bei einem Teil der Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen, die Grundstimmung, sich selbst als
nutzlos zu betrachten, und verschließt den Erfahrungsraum für die Chance der
ästhetischen Erfahrung. Ein weiterer großer Anteil der Menschen hetzt irgendwelchen
Erlebnisangeboten nach, die gleichsam abgearbeitet werden, ohne als ästhetische Erfahrung,
die den bisherigen Erfahrungsschatz vertieft und bereichert, zur Entfaltung zu gelangen.
Eine zu weite Definition von Lebensqualität ignoriert faktische Unterschiede,
denn die Aussichten eines Straßenkindes auf ein qualitativ erfülltes Leben sind wenig
erfolgversprechend. Eine zu enge Definition von Lebensqualität ist gefährlich, denn
sie verleitet dazu, Menschen, deren Lebensverhältnisse dieser Norm nicht
entsprechen, mit überheblichem Mitleid zu behandeln, doch ihr Leben insgeheim abzuwerten.
Die Problematik des Begriffs der Lebensqualität, der erst seit circa dreißig Jahren
populär ist, liegt genau darin, daß er zwar geprägt wurde, um die rein quantitativen
Fortschritte der modernen Lebensumstände zu kritisieren und eine zeitgemäße
Bezeichnung für den tradierten philosophischen Begriff des guten Lebens einzuführen,
dann aber zunehmend nur noch anhand von statistischen Daten dargestellt wurde.
»Damit wird allerdings das Verständnis von Lebensqualität praktisch weitgehend mit
der Suche nach einem Gesamtmaß des Lebensstandards verbunden. Wenn es auch im
einzelnen sinnvoll sein kann, soziale Indikatoren zu erheben (als Teil einer Sozialstatistik
etwa), so ist doch die Vorstellung problematisch, es könne über die Aggregation einer Liste
rein quantitativer Größen ein (nicht-willkürliches) quantitatives Analogon des
Bruttosozialprodukts gewonnen werden, das dann einen qualitativen Vergleich der Lebensqualität
gesellschaftlicher Systeme ermöglicht.« (Mittelstraß Hrsg., EPWT 1996, Art. Lebensqualität)
Der beste Lebensstandard sichert nicht die Konkretisierung von
Lebensqualität. Diese ist vielmehr anhand der Verfügbarkeit und Einlösung von solchen
Angeboten, welche zur flexiblen, die Entscheidungsfreiheit der Individuen respektierenden
und deren Lebensperspektiven entsprechenden Lebensgestaltung anregen, immer
wieder aktuell zu bewerten. Auf die dargelegte Ausgangsthese und Zielsetzung dieser
Untersuchungen bezogen, hat Design die Aufgabe, solche Angebote im Hinblick auf
ihre positive Einbindbarkeit in die ästhetische Erfahrung zu gestalten.
|