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Einführung

Diese Untersuchung richtet sich an Designstudenten, Designpraktiker sowie an alle am Designprozeß Beteiligten. Sie ist als theoretische Unterstützung der Designpraxis zu verstehen. Designpraxis umfaßt so unterschiedliche Tätigkeitsbereiche wie Modedesign, Kommunikationsdesign, Ausstellungsdesign, Service-Design, Industrial Design oder Computational Design und Interface Design. Die einzelnen Bereiche erfordern spezielles Detailwissen. Dadurch gerät das Gemeinsame aller Designdisziplinen, leicht aus dem Blick. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie geht davon aus, daß professionelles Design nicht allein auf die Funktion als Marketinginstrument reduziert werden darf, da es für das Leben der Menschen weitgehendere Auswirkungen hat. Das Design von Umwelt und Gegenständen beeinflußt die Mensch-Welt-Beziehungen und damit die Möglichkeit des einzelnen Menschen, innerhalb seiner Lebensumstände, Lebensqualität zu erfahren. Dies ist das Gemeinsame der verschiedenen Designbereiche.

Hauptmotiv dieser Untersuchung ist es, beizutragen, menschliche Empfindungen von Lebensqualität zu verbessern und dieses Anliegen stärker in den Designprozeß einzubringen. Dies erfordert es, bereits in der Konzeptionsphase das Verhältnis der gerade zu bearbeitenden Thematik zu der Wirklichkeit und dem Leben der Menschen, für die das künftige Resultat gedacht ist, möglichst gut zu analysieren und zu verstehen. Dadurch wird eine Verbesserung der Empfindung von Lebensqualität bei den Nutzern des neuen Designprodukts zumindest wahrscheinlicher. An dieser Stelle kann die Theorie ihren Beitrag für die Designpraxis leisten. Die folgende Untersuchung entwickelt ein flexibel und spielerisch einzusetzendes Instrumentarium, das durch Analysen einen differenzierten Zugang zur Vielfalt menschlicher Wirklichkeit und Lebensqualität schafft und deren gestalterische Einbindung in das jeweilige Designprodukt durch die DesignerInnen* erleichtert.

Erfahrungen im Fühlen, Denken und Handeln lassen sich auf verschiedenste Weisen gestalten und bewerten. Forschungen zur Künstlichen Intelligenz belegen, daß es zwar leicht ist, Expertensysteme zu programmieren, aber noch sehr schwer, das Verhalten eines Kindes in einer Alltagssituation zu simulieren. Daran wird erkennenbar, daß das wesentliche Potential menschlicher Intelligenz in der Fähigkeit zu einer situationsgerechten, flexiblen Kreativität gründet und nicht in einer optimierten, festgefügten Ordnung liegt. Solange Menschen existieren, wird die menschliche Kreativität immer wieder andere Interpretationen, neue Bezeichnungen, unterschiedliches Design für die meisten Elemente der Lebenswirklichkeit hervorbringen. Professionelles Design sollte der daraus erwachsenden Vielfalt menschlichen Lebens gerecht werden und entsprechend vielfältige, qualitative Angebote bereitstellen. In technischer Hinsicht wird künftig die Produktion von Kleinserien oder Unikaten durch computergesteuerte Fertigungsverfahren zunehmend einfacher. Die wesentlichen Anforderungen an Designer verlagern sich daher von technikbezogenen auf humanwissenschaftliche Kompetenzen. Weniger der Entwurf eines gegenständlichen Produkts als vielmehr die Gestaltung der Art und Weise seiner Verwendung und deren spezifische Einbindung in die individuelle ästhetische Erfahrung und Wirklichkeitskonstruktion bildet in Zukunft das zentrale Thema für Design. Deshalb ist es für alle am Designprozeß Beteiligten wichtig anzuerkennen, daß die Wünsche der Nutzer nach Verbesserung ihrer Lebensqualität nur durch relative, von Fall zu Fall neu zu prüfende, nicht durch absolute Kriterien zu erfassen sind. Um diese Kriterien benennen und durch Design erfahrbar machen zu können ist es notwendig, eine vieldimensional ausgerichtete ästhetische Kompetenz zu entwickeln, die sich auf die Erfassung der Problemstellung, die Generierung unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten, die Präsentation und den kritischen Vergleich bezieht. Eine solche Kompetenz ist nicht auf leicht lehr- und lernbares, zur allgemeingültigen, abstrakten Essenz zu verdichtendes Wissen zu reduzieren. Sie wächst vielmehr durch die dauernde theoretische und praktische Auseinandersetzung mit den vielfältigen Ausformungen von positiv empfundener Wirklichkeit.

Aus designtheoretischer Sicht ist es daher eine vordringliche Aufgabe, zu dieser Auseinandersetzung anzuregen und die Thematik diskussionsfähig zu strukturieren. Hierzu trägt die vorliegende Untersuchung bei. Sie zielt darauf ab, das Entstehen von qualitativem Design für vielfältige Lebenswirklichkeiten zu fördern, nicht darauf, Designkriterien bezüglich einer exponierten Lebenswirklichkeit darzulegen. Diesbezüglich ergibt sich als Zielsetzung für einen guten Designentwurf, daß er, in welchem Medium er auch konkretisiert ist, eine explizit benennbare, qualitative Verbindung zwischen der problematiserten Thematik und der besonderen Lebenswirklichkeit der Menschen, für die der Entwurf gedacht ist, erzeugt. Das Erleben dieser qualitativen Verbindung, eine positive Empfindung im Zusammenhang mit einem bestimmten Design, wird im folgenden durch den Begriff der ästhetischen Erfahrung, umfaßt.

Hieraus leitet sich die Aufgabenstellung der vorliegenden Untersuchung ab, um deren Grundmotiv »Design für vielfältig erfahrbare Lebensqualität« einlösen zu können. Es geht darum, die Korrespondenz von Design und ästhetischer Erfahrung theoretisch darzulegen und zu analysieren. Dies kann nur ein theoretischer Ansatz leisten, welcher der Vielfalt und Dynamik der Erfahrung im allgemeinen und der Ausrichtung der ästhetischen Erfahrung im besonderen gerecht wird. Für die Bestimmung einer Theorieposition sind daher die beiden im folgenden umrissenen Schwierigkeiten der Theoriebildung zu berücksichtigen.

Erstens ist zu bedenken, daß die theoretische Sicht auf ein Praxisfeld immer schon eine Auswahl durch die notwendige Begrenzung des Untersuchungsfeldes beinhaltet. Diese gilt es, möglichst explizit zu machen, um den unvermeidbaren Filter der »unsichtbaren Brille«, die jeder Theoretiker durch seine fachliche Einbindung trägt, möglichst groß zu halten. Ansonsten verstärken Theorien unbemerkt Paradigmen (vgl. Kuhn, 1976), die nur das für sie Erkennbare ausfiltern und andere Praxisbereiche überhaupt nicht mehr registrieren können. Im Designbereich stellte beispielsweise der Funktionalismus ein solchens Paradigma dar. In sich selbst paradigmatisch ist auch der Glaube der Moderne an einen linearen Fortschritt im Wissenschaftsbetrieb und damit die Überzeugung, daß sozusagen in aufbauender Folge jedes Paradigma von einem neuen, besseren Paradigma abgelöst oder schließlich durch das richtige und endgültige ersetzt werden wird. Heute, nach ernüchternder Kenntnisnahme des Scheiterns solcher Konzepte mit Absolutheitsanspruch, gilt es immer, die Relativität des Beobachterstandpunkts und damit des Gültigkeitsbereichs einer Theorie mitzubedenken. Dies betrifft ebenso eine ästhetische Theorie für Design. So ist beispielsweise die Streitfrage, ob intuitives oder bewußt geplantes Vorgehen zu besseren ästhetischen Lösungen führt, dahingehend zu beantworten, daß jeder, der auf eine weitergehende Reflexion verzichtet, in seinem blinden Fleck gefangen bleibt, ob er nun aus dem Bauch oder mit dem Kopf entwirft. Einige glauben, indem sie ihren innersten Überzeugungen durch Entwürfe Ausdruck geben, wie von selbst die richtige Lösung zu finden. Diese später zum Beispiel anläßlich einer Präsentation zu erklären oder durch persönliche, kritische Distanz zu verbessern, fällt dann schwer. Ebenso täuscht sich der einseitig nur rationalen Kriterien Folgende, wenn er überzeugt ist, alle relevanten Kriterien miteinbezogen zu haben und sich nicht selbst auf eine weitere Beobachterposition stellt, um zumindest diese Befangenheit zu erkennen und ihre Unumgehbarkeit zu akzeptieren.

Denn trotz des Wissens um die Relativität von Theorie läßt sich diejenige »Brille«, die zur persönlichen Auswahl und Bearbeitung der relevanten Untersuchungspunkte führt, nie ganz ablegen. Bei allem Bemühen um Objektivität und eine umfassende Sicht läßt sich das subjektive Erkenntnisinteresse nicht völlig ausschalten. Wie Charles S. Peirce in seinem Aufsatz »The fixation of believe« (vgl. Die Festlegung einer Überzeugung, in: Apel, 1991, S. 149-181) herleitet, kann keine Erkenntnis, kein Wissen entstehen, ohne von einer Prämisse auszugehen, deren Richtigkeit überzeugend und glaubhaft ist. Für den aufgeklärten Menschen folgt daraus die Notwendigkeit, sich zu bemühen, seine Glaubensbasis bestmöglich mit nachprüfbaren Argumenten zu fundieren. Diese Voraussetzung für Theorieentwicklung sollte immer offensichtlich bleiben und nicht mittels eines Rückgriffs auf angeblich fundamentale Entitäten wie dem Verweis auf »die Natur« des Menschen scheinbar unumstößlich begründet werden.

Zweitens erfordert die Formulierung einer Theorie trotz der Vorsicht gegenüber ungewollter Paradigmenbildung ein gewisses Maß der Schematisierung oder der Typisierung des Untersuchungsfeldes. Die dadurch entstehende geordnete Sicht auf den untersuchten Praxisbereich begründet zum einen den Vorteil und die Sinnhaftigkeit der Theorie gegenüber der Praxis. Da der Mensch mit seinem Handeln in der sich ständig verändernden Praxis verwickelt ist, hilft ihm die Theorie dabei, zeitliche, räumliche und sachliche Distanz zu gewinnen und das Praxisgeschehen möglichst unbeteiligt von außen zu reflektieren. Zum anderen liegt in der Eigenart der Theoriebildung, distanzierend und typisierend vorzugehen, auch ihr Nachteil begründet, weil dadurch die Gefahr der Verselbständigung einer Theorie gegenüber ihrem Untersuchungsfeld besteht, indem schließlich die Theorie die Begründung ihrer Richtigkeit in sich selbst trägt und nicht mehr an der Praxis überprüft. Für viele Bereiche der mathematischen Theoriebildung ist diese Verselbständigung keine Gefahr, sondern gehört zwangsläufig zum mathematischen Forschen. Dagegen sollte eine Designtheorie immer ihren Bezug zur Lebenspraxis aufrecht halten. Wie Siegfried Maser hervorhebt, beinhaltet der Designprozeß Reflexion und veränderndes Handeln. Problemstellungen müssen erfaßt, Lösungsmöglichkeiten und -strategien entwickelt und konkrete Umsetzungen wenigstens modellhaft erprobt und beurteilt werden. Hierfür sind Theorie und Praxis gleichermaßen wichtig und in ständige Wechselwirkung zu bringen (vgl. Maser, 1976). Das heißt, daß sich nicht nur die Praxis nach den theoretischen Vorgaben richten sollte, um ein überprüfbares Ergebnis zu erzielen, sondern daß auch eine Theorie, die sich als ungeeignet erweist, praktische Probleme zu beschreiben, zu erklären, sinnvolles Handeln zu prognostizieren oder die Resultate zu beurteilen, entsprechend erweitert, umgeformt oder erneuert werden muß.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich somit zwei wesentliche Anforderungen gegenüber einer ästhetischen Theorie für Design, die der Dynamik des Wissensgebietes gerecht wird. Sie sollte erstens ihre durch den Beobachtungsfilter bedingte Unvollständigkeit reflektieren und sich der Diskussion im Verhältnis zu alternativen Sichtweisen stellen. Zweitens muß eine Theorie für Design praxisbezogen angelegt und für Wechselwirkungen sowie für entsprechende Weiterentwicklung offen sein.

Leitende These der Untersuchung ist die Annahme, daß ästhetische Erfahrung in Verbindung mit der Entfaltung vielfältiger Lebensqualität zu verstehen ist und ein zentraler Ansatzpunkt für Design sein muß. Die Fähigkeit des Menschen zur gezielten Gestaltung von Lebenswirklichkeit, die bei Designern wohl besonders ausgeprägt ist, sollte in Korrespondenz zu vielfältigen ästhetischen Erfahrungen fruchtbar weiterentwickelt werden. Deshalb zielt die Untersuchung gleichermaßen darauf ab, die Grundannahmen bezüglich der Bedeutung von ästhetischer Erfahrung für die allgemeine Erfahrung und das menschliche Leben theoretisch herzuleiten sowie zu überprüfen, als auch Konsequenzen für die Designpraxis aufzuzeigen (vgl. Kapitel 1.4).

Der Grundaufbau der Untersuchung ist daraufhin angelegt, erstens die ästhetische Erfahrung sowohl ganzheitlich in ihrem Zusammenhang, als auch differenziert hinsichtlich verschiedener Komponenten und deren jeweiliger Typik zu erfassen und entsprechend herauszuarbeitenden Kategorien für Design zuzuordnen, zweitens diese Verflechtung von Erfahrungskomponenten und Designkategorien durch exemplarische Ansätze aus der Praxis zu veranschaulichen und drittens durch die theoretische Konzeption und Perspektive Möglichkeiten für künftige Ergänzungen und Weiterentwicklungen offen zu lassen.

Im ersten Kapitel wird der systematische Grundaufbau, basierend auf der Konzeption von Erfahrung als dynamischer Organisation sowie der Unterteilung der ästhetischen Erfahrung in Komponenten und die Differenzierung von Design nach Kategorien, entwickelt. Jedes folgende Kapitel stellt eine Komponente ausführlich dar und weist die gleiche methodische Gliederung auf, die schon im ersten Kapitel zur Anwendung kommt. Diese Gliederung ergibt sich aus dem Anliegen, die Theorie-Praxis-Verschränkung der Gesamtthematik im Verlauf der Untersuchung immer gegenwärtig zu halten.

In jedem Kapitel wird im ersten Unterpunkt die zu einer Komponente der ästhetischen Erfahrung gehörige Thematik allgemein charakterisiert, indem Bezüge zu entsprechenden theoretischen Ansätzen und wissenschaftlichen Ergebnissen hergestellt werden. Auf dieser Charakterisierung, die jeweils mit einem Fazit abgeschlossen wird, basiert die Darlegung eines Modells für die Organisationsdynamik der jeweiligen Komponente im zweiten Unterpunkt. Hier erfolgt eine Aufteilung der Komponente in Teilprozesse, Subprozesse und einen Hauptprozeß. Deren kausale Wirkzusammenhänge, sowohl zueinander, als auch in Relation zu anderen Komponenten, werden durch das Modell erfaßt. Im dritten Unterpunkt werden typische Akzentuierungen der jeweiligen Komponente in Korrespondenz zu einer Kategorie von Design gebracht, indem den herausgefilterten Typen ein spezifisch abzustimmendes Design gegenübergestellt wird. Der vierte Unterpunkt ist als Detailanalyse angelegt, die einer Untersuchungsmatrix folgt, welche sich aus den vorherigen Unterpunkten ergibt. Im Verlauf der Detailanalyse werden Richtlinien für das spezifisch ausgerichtete, einer Kategorie zuzuordnenden Design korrespondierend zu der Komponente ästhetischer Erfahrung entwickelt und anhand vieler Beispiele aus der Lebenspraxis veranschaulicht.

Die erarbeiteten Richtlinien für Design sowie die zugehörigen Beispiele sind nicht als abschließende Lösungen der bearbeiteten Problematik zu verstehen. Sie dienen lediglich dazu, das Wesentliche jedes analytisch ausgefilterten Erfahrungsbereichs hervorzuheben und exemplarisch zu verdeutlichen. Kurzdarstellung der Kriterien und Beispiele sind besonders für die Designpraxis hilfreich, da von ihnen explizite Ansätze für differenzierte Entwürfe zu einem gerade aktuellen Projekt abzuleiten sind. Durch Kombinieren der Kriterien, deren Ausweitung oder Neugewichtung kann der Designpraktiker einen weiten Spielraum von Interpretationsmöglichkeiten entfalten. Dies unterstützt das Entstehen von Vielfältigkeit im Design.

Zu Beginn der Detailanalyse wird die Untersuchungsmatrix jeweils mittels einer Übersicht dargestellt. Auf dieser sind die Analysepunkte durch grafische Symbole markiert, welche auch den zugehörigen Textabschnitten voranstehen. Diese Übersichten sind als Orientierungshilfe beim Lesen gedacht und nicht mit der Visualisierung des theoretischen Ansatzes zu verwechseln! Jeder der Analysepunkte wird erstens bezüglich seiner Bedeutung innerhalb der ästhetischen Erfahrung kurz vorgestellt und zweitens durch ein Beispiel, das die darauf abgestimmte Ausrichtung von Design aufzeigt, veranschaulicht. Dadurch treten die Unterschiede, die sich bezüglich den verschiedenen Typen einer Komponente der ästhetischen Erfahrung und der korrespondierenden Ausrichtung von Design ergeben, im direkten Vergleich hervor. Der Leser kann sich an den Symbolen orientieren und beispielsweise die Analysepunkte zu nur einem Typ ästhetischer Erfahrung und dem zugehörigen Design verfolgen.

Der logischerweise nächste Schritt, die empirische Überprüfung der Beispiele, ihre Erweiterung oder die Revision der zugehörigen ästhetischen Kriterien für Design, bleibt im Rahmen dieser auf die Theorie begrenzten Untersuchung ausgeklammert. Er müßte vielmehr durch Anwendung der Untersuchungsergebnisse in der Praxis erfolgen.

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