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[2.3.2]
Zum Hauptkriterium der »geschmacklichen Gemeinsamkeit«
bezüglich der perzeptiven Qualität

Die Wertung von ästhetischem Reizmaterial als Eigenwert und die Qualität der Entfaltung von reflektierter Sinnlichkeit bezüglich dieser Reize ist für Kant mit dem Anspruch auf Zustimmung durch den Gemeinsinn verbunden und im Apriorischen verankert. Demjenigen, der hierzu nicht fähig ist, bescheinigt Kant einen »barbarischen Geschmack«. In der Folge bediente sich das Bildungsbürgertum zunehmend dieses Arguments, pflegte den guten Geschmack und begründete dadurch eine Gemeinsamkeit, aus der alle diejenigen, welche diesen Geschmack nicht teilten, ausgeschlossen blieben. Man hielt sie im Grunde für geistig minderbemittelt, wenn sie unfähig waren, intuitiv die Besonderheit eines ästhetischen Objekt zu erfassen. Es schien so, als gäbe es nur einen richtigen guten Geschmack. Indem sich jeder gebildete Mensch bemühte, seine ästhetischen Wertungen dieser Norm anzugleichen, wurde sie immer weiter bestätigt. Gemeinsamkeit und Kompetenz zur entsprechenden Geschmacksbildung begründeten sich gegenseitig. Aber diese Gewachsenheit des Geschmacks aus der kommunikativen Praxis der Bildungsbürger wurde von ihnen selbst nicht erkannt. Der Soziologe Pierre Bourdieu analysierte die soziologischen Bedingungen der Möglichkeit von ästhetischen Wertungen und deckte die Nutzung des Geschmacks als Unterscheidungskriterium zur Festigung sozialer Hierarchien auf.

»Damit die Gebildeten an die Barbarei glauben und ihre Barbaren im Lande von deren Barbarei überzeugen können, genügt es, daß sie es fertig bringen, die sozialen Bedingungen zu verschleiern (auch sich selbst zu verschleiern), auf denen nicht nur die als zweite Natur verstandene Bildung beruht, an der die Gesellschaft die menschliche Auszeichnung oder den bon goût als Verwirklichung in einem von der Ästhetik der herrschenden Klassen bestimmten Habitus erkennt, sondern auf die darüber hinaus auch die legitimierte Herrschaft sich stützt ­ oder, wenn man so will, die Legitimität eines partikularen Begriffs von Bildung. Und auf das der ideologische Zirkel sich vollständig schließe, bedarf es nur noch der Vorstellung von einer Art Wesenszweiteilung ihrer Gesellschaft in Barbaren und Zivilisierte, um ihr Recht bestätigt zu finden, über die Bedingungen zu verfügen, nach denen der Bildungsbesitz und der Ausschluß von diesem Besitz, d. h. ein Naturzustand produziert wird, der notwendig so erscheinen muß, als sei er in der Natur jener Menschen begründet, die an ihn veräußert sind.« (Bourdieu, 1974, S. 197 f.)

Bourdieu zeigt erstens, daß sich weder Gemeinsamkeit noch Geschmack weiterhin durch Berufung auf einen allseits verbreiteten Gemeinsinn begründen lassen und nur kommunikativ entwickelbar sind. Zweitens konfrontiert er das Individuum mit der Tatsache, daß die subjektive Geschmacksbildung immer schon durch das soziale Umfeld vorgeprägt ist. Drittens stellt er den Anspruch der herrschenden Klasse auf die Bestimmung dessen was Bildung und eben auch Geschmack sein soll, in Frage (vgl. dazu auch T. Veblen, 1993).

Aus all dem folgt, daß in einem aktualisierten philosophischen Modell der apriorische Anker dynamisch und zusätzlich an verschiedenen Positionen plazierbar vorzustellen ist. Die Entwicklung von Gemeinsamkeit, die sich in einem gemeinsamen Geschmack ausdrückt, ist nicht mehr allein durch die Teilnahme am bildungsbürgerlichen System legitimiert, sondern ist im Prinzip von jeder sozialen Gruppierung zu betreiben. Insbesondere junge Menschen artikulieren ihre Gemeinsamkeit durch formale Mittel wie Musik, Kleidung, Begrüßungsrituale. Nach Bourdieu's Theorie werden diese formalen Mittel zur Abgrenzung und Unterscheidung ebenso wie zur Demonstration von Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit genutzt. Bei längerem Bestehen solcher Szenen oder Subkulturen, wie beispielsweise Punk und Techno, oder anhaltendem Interesse an bestimmten Ausdrucksformen und Genres, wie Rock­Musik, B­Movies, Flyer usw., kommt es genauso wie in der politisch als solche definierten Hauptkultur zur zunehmenden Verfeinerung, Spezialisierung und differenzierten Qualifizierung der formalen Mittel und der gemeinsamen Kultivierung von geschmacklicher Kennerschaft.

Das Einüben einer innerlich distanzierten Beobachtungsweise, welche beispielsweise professionelle Designer und alle an der Planung von Werbekampagnen oder Konzepten für Corporate Identity beteiligten Personen praktizieren sollten, müßte anhand einem demonstrativ zur Schau gestellten Stilpluralismus auch den Laien leichter fallen. Was durch das Zappen zum Sammeln von Material als Basis für vergleichende Analysen von Ausdrucksformen geschmacklicher Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Fernsehsendern, Sekten, Theorien, Lebensstilen, Szenekneipen usw. an Authentischem verloren geht, kann an aufgeklärtem Bewußtsein, auch hinsichtlich der eigenen Position, hinzugewonnen werden. Das Reflektieren von Ästhetischem muß nicht mit der Verweigerung der persönlichen Teilnahme an der kommunikativen Pflege und Entwicklung geschmacklicher Gemeinsamkeit einher gehen. Weitere Wertungsdimensionen für die Reflexion werden aber erst durch das Hinterfragen eigener Gewohnheiten und dem entsprechenden Naivitätsverlust bezüglich der ästhetischen Urteilsbildung erschließbar. Dies gilt für den in modischen Accessoires schwelgenden Friseur ebenso, wie für den, einem asketischen, minimalistischen Formenkanon nacheifernden Architekten oder Designer. Keine Ausdrucksform geschmacklicher Gemeinsamkeit ist von sich aus besser oder höher zu stellen als eine andere.

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